Die Athener produzieren Verkehrschaos, sind TV- und Handy-Junkies und mit den Olympischen Spielen hoffnungslos überfordert. Aber wie ist er denn nun wirklich, der Grieche an sich und der Athener im Speziellen?

Urlaubserinnerungen an Athen? Diese Betonburg aus Flachdächern und glühendem Asphalt, wo die Abgase Herz und Lunge den Rest gaben? Man war doch froh, wenn am Flughafen in Glyfáda die Olympic-Propellermaschine für ein paar tausend Drachmen endlich nach Kreta, Kos oder Korfu abhob. Doch jetzt gelten die alten Ausreden nicht mehr.

Im stillgelegten Hellenikón entsteht ein Sport-, Freizeit- und Kulturzentrum, und die alte Dame hübscht sich auch unterhalb der noblen Vororte Kifissiá und Maroússi auf. Eláte, kommen Sie. Rasen wir runter ins Zentrum.

Apropos. Die Athener fahren zu schnell, alkoholisiert, schnallen sich nicht an und nehmen ständig die Vorfahrt. Ein weiteres Vorurteil? Nein, das Ergebnis einer Studie von Notarztbehörde und Universität. Denn im Verkehr regiert das Stammhirn. Vergleichbar einem archaischen Geburtsakt: Als Göttervater Zeus (Autofahrer) erfuhr, dass seine Frau ihm eine Tochter und einen Sohn (Busfahrer) gebären würde, fürchtete er, sein Sohn könnte ihm den Thron (Verkehrslücke) entreißen. So verschlang er die schwangere Metis (Fußgänger), bekam aber Kopfschmerzen (vom Smog) und befahl Hephaistos (Taxifahrer), ihm mit einer Axt den Schädel zu spalten. Heraus hüpfte, in voller Rüstung und mit wildem Kriegsgeschrei, die jungfräuliche Schutzgöttin Athene (Metro) und war fortan Papas Liebling.

In der Unterwelt muss man nur eine Regel beachten, abgeleitet von der Angriffsstellung beim American Football. Wenn die Abteiltür der Metro aufgeht: eine Faust auf den Boden, Kopf runter und beherzt mitdrücken. Sonst kommt man nie rein. Raus auch nicht.

Athener gehen nicht

Wer sich erfolgreich rausgedrängelt hat und nicht mit der Rolltreppe nach oben fährt, sondern die Treppe nimmt, fällt gleich als Ausländer auf. Athener gehen nicht! Nicht vor die Tür, wenn es heiß ist oder zwei Tropfen regnet und auch sonst nicht. Lieber fahren sie sich am Wochenende, wenn die halbe Stadt an die Strände flüchtet, im Sand fest. In der Stadt sitzen zu viert auf dem Moped: Vater und Kind eins auf dem Sitz, Mutter auf dem Gepäckträger, Kind zwei auf dem Lenker. Oder sie stellen den Wagen mit eingeschaltetem Warnblinklicht in dritter Reihe vor ihrem Ziel ab.

Wir nehmen besser eines der 15.000 Taxen. Alle Wagen haben inzwischen Sicherheitsgurte, und der Fahrer fährt neuerdings, wohin WIR wollen. Für einen Betrag, den man in Deutschland schon beim Einsteigen zahlt, kommt man durch die halbe Innenstadt mit ihrem Labyrinth aus Nebenstraßen.

Die gilt es zu meiden. Die Bürgersteige sind so schmal, dass der Platz kaum für die Obstbäume reicht. Aufgeplatzte Früchte halten die schiefen Platten schön geschmeidig hinter den dauergeparkten Autos und vor den schwarz glänzenden Plastiksäcken. Die Athener füllen sie schneller, als die Müllmänner sie wegschleppen können - selbst wenn die Müllabfuhr zwischen den Feiertagen mal nicht streikt.

Leidenschaft Handy

Tierlieb sind die Athener auch. Sie stopfen ihre Essensreste mit in die Säcke, damit die rund 5000 streunenden Katzen und Köter, die heimlichen Herrscher der Seitenstraßen, kein Hundeleben führen müssen.

Ebenfalls in dieser Größenordnung bewegt sich die Zahl der períptera. An zentralen Plätzen wie Omónia und Syntagma führen die Kioske Aspirin, Batterien, Bustickets, Kekse, Kondome, Milch, Pornofilme, Rasierklingen, Telefonkarten, Zeitungen, Zigaretten. Eben alles, was die Athener zwischen sechs Uhr morgens und drei Uhr nachts plötzlich brauchen könnten.

Wenn sie ihre Handy-Akkus leer gequasselt haben, zum Beispiel ein antiquiertes Telefon. Sie gehen dann zum nächsten Kiosk und lassen sich den Tastenapparat rausreichen. Die Leidenschaft der Athener, überall und zu jeder Zeit zu telefonieren, hat schon zu einem Handyverbot im Parlament und in allen öffentlichen Gebäuden geführt. Raten Sie mal, wie viele der Dauerredner sich daran halten. Richtig. Das Wort Anarchie ist griechischen Ursprungs!

So wie die Olympischen Spiele. Wie alles andere, beruht auch deren Vorbereitung auf drei Säulen: Sigá, sigá (Immer mit der Ruhe), Dén birási (Macht nichts) und Dén chálasse ó kósmos (Davon geht die Welt nicht unter). Damit erübrigt sich wohl die Frage nach den neuen U-Bahnlinien, Straßen und Sportstätten. Natürlich werden die Handwerker bis zur Eröffnungszeremonie am 13. August wirbeln, aber alles wird fertig sein. Jedenfalls alles Wesentliche. Dazu gehört für die Athener offenbar nicht die Olympische Schwimmhalle - die wird nämlich ohne Dach auskommen müssen, hat das Athener Organisationskomitee verkündet; fünf Monate vor Beginn der Spiele! Das allein ist schon eine großartige Leistung. Und, mein Gott, die paar Reflektionen auf den Linsen der Fernsehkameras. Davon gehen keine Schwimmer unter. Das kratzt keinen Athener.

Süchtig nach Chlor

Die Hauptstädter haben andere Marotten. EU-Statistikern zufolge lesen sie kaum Zeitungen und Bücher und besuchen selten Theater, Museen oder eines der 260 Kinos, die Filme wie den deutschen "Good Bye, Lenin!" im Original zeigen. Dafür gucken sie stundenlang Fernsehen. Selbst beim Essen in Tavernen, wo sie fast neun Prozent ihres Einkommens ausgeben. Den Rest wahrscheinlich für Tabak. Als Nichtraucher verlängert man besser seinen Urlaub. Die Suche nach einem rauchfreien Tisch in Tavernen und Cafés kostet viel Zeit und Mühe.

So wie das Betrachten der 3000 renovierten, oft neoklassizistischen Fassaden an den Nationalfeiertagen 25. März und 28. Oktober. Dann sieht man sie nämlich kaum, weil mehr blau-weiße Fahnen davor hängen als die Altstadt Einwohner zählt. Im Schwitzkasten von mehr als drei Millionen Zugezogenen stellen die alteingesessenen Athinäí eine Minderheit in ihrer eigenen Stadt dar.

Gemeinsam ist allen Athenern, dass sie einen wahren Hygienetick haben und deshalb selbst das Leitungswasser stärker nach Chlor riecht als städtische Badeanstalten in Deutschland. Besonders die jungen Athener sind geradezu süchtig nach Chlor und bevorzugen die gechlorte Variante sogar beim Trinkwasser. Das lassen sie sich übrigens am liebsten zu Hause servieren: Jeder Zweite zwischen 25 und 30 lebt noch im Hotel Mamá.

Bürgermeisterin Bakojánní päppelt derweil die alte Dame. Fast eine Dreiviertelmillion neuer Bäume, Büsche und Blumen hat sie pflanzen lassen. Athen als Luftkurort? Hier ist alles möglich. Aber nicht sofort. Àvrio, morgen.

Aus "Merian"-Heft "Athen", Juni 2004